Fräulein Schnitzler

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  • Fräulein Schnitzler
  • Roman (248 S.)
  • Haymon Verlag 2006
  • ISBN-NR. 3-85218-499-1

 

KLAPPENTEXT

Lili Cappellini, geborene Schnitzler, Tochter von Arthur und Olga Schnitzler, nimmt sich am 26. Juli 1928 neunzehnjährig in Venedig das Leben. Sie war hübsch und hochbegabt und der Augenstern ihres Vaters, der sie abgöttisch liebte. Selbst als sie sich in einen um vieles älteren italienischen Milizionär und überzeugten Faschisten verliebt, hintertreibt der Schriftsteller, liberal wie er ist, nicht die Heirat und unterstützt das mittellose Paar großzügig. Über die Gründe, die Lili in den Tod trieben, kann bestenfalls spekuliert werden: War es die überstürzte, nur kurze Zeit glückliche Ehe mit Arnoldo Cappellini? Die in der Familie Schnitzler grassierende Melancholie? Die Überforderung durch den Vater? Oder identifizierte sich Lili allzu sehr mit „Fräulein Else“ aus der gleichnamigen Novelle, deren Lebensweg dem ihren erschreckend ähnelt? Gabriele Weingartner spürt in ihrem Roman diesen und anderen Mutmaßungen nach und bedient sich dabei einer literarischen Methode, die Arthur Schnitzler erfunden hat: einer Art innerem Monolog, der durch eine kontinuierliche äußere Handlung aufgebrochen wird. Lili reflektiert, zwei Tage vor ihrem Selbstmord, ihre kurze Vergangenheit, holt ihre privilegierten Wiener Jahre zurück und lässt die berühmten Freunde und Bekannten ihrer Eltern Revue passieren. Venedig erlebt sie nur mehr als Kulisse, hinter die sie nicht mehr dringen kann.

 

REZENSIONEN

Michael Buselmeier, „Die Rheinpfalz“

  • „Im sommerlich heißen Venedig, zwei Tage vor ihrem Selbstmord, rekapituliert Lili, der keiner mehr zuhört, ihr junges Leben, mit Rückblicken auf die Wiener Jahre, intelligent, hochmütig, wortgewandt – ein langes Selbstgespräch und eine einzige Klage, verspielte Jungmädchensätze dazwischen, von Ironie getragen, wenn sie etwa über ihre Opern singende Mama oder die dicke Alma Mahler lästert. Gabriele Weingartner hat alles mit leichter Hand und hoher Perfektion zu Papier gebracht, mit eleganten Übergangen und vielen Einfällen, in einer etwas altertümlichen Sprache und Satzmelodie, dunkle Vorausdeutungen und Leitmotive einstreuend – ein psychologischer Realismus, der zu diesen Menschen und ihren Erfahrungen passt. Eine untergegangene Zeit der Zwischentöne, des Abwägens, der erotischen Zweideutigkeit wird sichtbar.“

 

Irene Ferchl, „Stuttgarter Zeitung“

  • „Gabriele Weingartner erschafft um die wenigen überlieferten Fakten herum eine ungemein glaubwürdige Figur, nur aus deren Selbstgesprächen, die um die glücklichen Kinderjahre in Wien, den sie verzärtelnden Vater und die schwierige Mutter ebenso kreisen wie um die erst überwältigenden, dann plötzlich erkalteten Gefühle für Arnoldo. (…) Gabriele Weingartner erzählt diese anrührende Geschichte psychologisch genau, sprachlich sensibel und mit einer Glaubwürdigkeit, die dem Fräulein Schnitzler im Nachhinein beinahe ein wirkliches Leben verleiht.“

 

Franz Haas, „Neue Zürcher Zeitung“

  • „Gabriele Weingartner hat rund um die knappen Fakten einen psychologisch sensiblen und plausiblen Roman gebaut, der vor allem den letzten zwei Tagen aus dem Leben der Lili Schnitzler nachgeht. (…) Gabriele Weingartner durchleuchtet gekonnt die weibliche Psyche während der letzten panischen Lebenstage. Dazu erfindet sie Seelenmonologe der Verzweifelten, in denen die ganze komplizierte Existenz der jungen Lili aufgerollt wird – eine Erzähltechnik wie von Arthur Schnitzler. Das ist für einen heutigen Roman wenig und viel: meisterhaft epigonal, hundert Jahre zu spät und doch von einem handwerklichen Geschick, wie es nicht so selbstverständlich ist .“

 

Gabriela Jaskulla, „NDR Kultur“

  • „(…) Es ist eine Vater-Tochter- oder eine Tochter-Vater-Geschichte, was beileibe nicht dasselbe ist, denn Lili Schnitzler, Tochter des jüdischen Schriftstellers Arthur Schnitzler, wurde zwar von ihrem berühmten Vater verwöhnt. Was er jedoch mit seiner zweideutigen Liebe anrichtete, begriff sie zweifellos besser als er – nur nützte es ihr nichts. Das ist zumindest die Lesart, die Gabriele Weingartner nahelegt. In ihrem sensiblen und feinsinnig geschriebenen Roman, der der jungen Lili in die Gassen und Winkel Venedigs folgt, der uns teilhaben läßt am Alltag einer verwirrten jungen Frau in einer fremden, sich maskenhaft verschließenden Stadt, schlüpft die Erzählerin selbst immer wieder in Lilis Rolle, läßt sie reflektieren, ihr Schicksal verwünschen und von einem besseren träumen.(…)
  • Wie alle Venedig-Bücher ist auch dieses todesinfiziert. Schon lange vor dem eigentlichen, fatalen Ende ist das Buch durchtränkt davon. Erzählt wird en passant von den Qualen des Komponisten Gustav Mahler und seiner rabenhaften Alma, von Freuds Analysen und den Folgen seiner Seelenerkundungen, von Wagners Todesrausch und der Dékadence – und das alles in einem venedig voll kranker Hitze, wo die Hausangestellte ein Kaninchen blutig zubereitet und der Gassenjunge Emilio zum Führer in eine Art Hades wird: Die Küche der Engelmacherin, zu der Lili sich flüchtet. Denn Lili, die kaum 18jährige geliebte Tochter Arthur Schnitzlers, hat ausgerechnet einen italienischen Faschisten zum Mann, der sich jedoch schon bald wieder von ihr abwendet. Doch da ist Lili schwanger. (…)
  • Für ein gescheites Buch ist das schon fast zu viel. Ein Stoff, so dick und fett, daß er für eine Kolportage taugte. Oder eine Schnulze. Aber Gabriele Weingartner hat schon manch heiklen Stoff bewältigt, und wieder gelingt ihr ein Kunststück: Das Ende ist sonnenklar und unausweichlich, die Sprache flackert und fiebert wie die Geschichte, und doch bleibt alles wunderbar in der Balance. „Fräulein Schnitzler“ ist ein Frauenroman, eine ergreifende Biografie, ein Venedigroman – und das Ereignis eines modernen Melodrams.

 

Dorothea Gilde, „literaturkritik.de“

  • „Was Fakten und Fiktion angeht, lässt die Autorin allen Vermutungen, die sich aufdrängen, Freiraum zur Interpretation. Und am Schluss ist wieder die Parallele zur ‚Fräulein Else‘ erkennbar. Weder die eine noch die andere wollte wirklich sterben. Das ist im Falle Lili umso tragischer. Während Else eine literarische Figur ist, lebt Lili. Noch. Und überlegt. ‚Überlegen wie Else, Papas Fräulein Else, die eine ganze Erzählung lang gebraucht hatte, bis sie zu einem Entschluss gekommen war, und dann so kopflos handelte in ihrer Verzweiflung.‘ Den Kampf der jungen Frau gegen sich selbst, gegen die Dämonen ihrer Alpträume, die zunehmende Kälte und Gleichgültigkeit des Ehemanns und die Verzweiflung einer zerbrechlichen Seele verwebt Gabriele Weingartner zu einem psychologischen Trauerspiel, in dem das Selbstzerstörerische, die psychologische Tiefenauslotung der Novelle von Schnitzler ebenbürtig ist.“

 

Dr. Manfred Müller, Österreichische Gesellschaft für Literatur , bei der Lesung in Wien

  • Fräulein Schnitzler spielt an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, dem 24. und dem 25. Juli 1928, in Venedig. In dieser Stadt lebt Lili Schnitzler, die Tochter des berühmten Schriftstellers, seit ihrer Heirat mit dem Offizier und Faschisten Arnoldo Cappellini. Lili ist unglücklich, ihre Ehe ist schlecht, sie ist außerdem schwanger, was sie geradezu panisch macht, und so versucht sie schließlich auf eher dilettantische Art Selbstmord zu begehen, was – auf dem Umweg über eine Blutvergiftung, weil die Kugel alt und verrostet war – gelingt. Am Tag darauf stirbt Arthur Schnitzlers Tochter im venezianischen Krankenhaus.
    Dieser Plot, historisch verbürgt und aus Schnitzler-Biograpien hinlänglich bekannt, dient Gabriele Weingartner als Ausgangspunkt einer hochinteressanten und spannend zu lesenden Charakterstudie. Lili steht im Mittelpunkt, die Erzählerfigur rückt ihr nicht von der Seite während dieser letzten beiden Tage ihres Lebens. Von ihrer Ehe erfährt man, von ihrer Beziehung zu ihrer Familie, ihrem Mann, Bekannten und Freunden, aber auch von ihrer Kindheit, von prägenden Erlebnissen und einschneidenden Bekanntschaften.
    Was hier, im Überblick, wie eine psychologische Studie klingt, ist in Wahrheit eine streng komponierte Erzählung, ein hochliterarischer Text, der jedoch im Detail analytische Exaktheit nicht vermissen und akribische Recherchen erkennen lässt. Die verwischte Grenze zwischen Literatur und dem wirklichen Leben ist zugleich Gattungsmerkmal und zentrales Thema des Buches. Zahlreich sind die Verbindungslinien, die Lili zwischen sich und literarischen Figuren ihres Vaters, allen voran Fräulein Else, sieht und zieht. Die gottgleiche Macht des Vaters, die dieser in den Werken ausspielt, vermisst Lili hingegen in der Realität. Und wenn sie feststellt, dass Schnitzler um sterbende Romanfiguren mehr trauert als um reale Personen, ist eine Stufe des Entfremdungsprozesses zwischen diesem Vater und dieser Tochter elegant bloßgelegt.
    Allerdings folgt auf Kritik stets umso tiefere Reue und die, Literatur und Leben wieder einende Einsicht, dass der Vater eben immer voraus sehe, wie Geschichten ausgingen. Ein Symbol, das die väterliche Literatur und das Leben der Familie Schnitzler verbindet, entnimmt Lili einer literaturwissenschaftlichen Arbeit: Der Wurm, so heißt es darin, stecke bei Schnitzler in allen Liebesbeziehungen. Für Lili wird aus diesem Wurm der „Familienwurm“, der nicht nur in der Literatur nage, sondern vor allem an den Beziehungen des Vaters zur Mutter Olga und an ihrer eigenen zu ihrem Mann.
    Der Vater ist allgegenwärtig in „Fräulein Schnitzler“, er ist der Mann, den Lili eigentlich verehrt, und oft sind die Zeichen dieser Verehrung chiffrierte Erotik. Die Mutter, naturgemäß Nebenbuhlerin in diesem (und, wie sich herausstellt, nicht nur in diesem) Fall, ist dagegen ein Reibebaum. Viel Freud steckt in solchen analytischen Beobachtungen, und es überrascht nicht, dass Freud auch vorkommt in dem Buch, ebenso wie seine Tochter Anna, Alma Mahler und Franz Werfel, Felix Salten, Peter Altenberg oder Anton Kuh.
    Auch versteckte Gäste finden sich bei der Lektüre, der Schauplatz Venedig verpflichtet ja geradezu zu Zitaten, und so verwundert es nicht, hier auf Casanova verwiesen zu werden und auf Richard Wagner. Schön gezeichnet ist auch ein kleiner Junge namens Emilio, der Lili auf abgründigen Wegen durch ein unterweltliches Venedig führt und dabei als ein Thomas Mannscher Todesbote den im Buch thematisierten „Tod in Venedig“ ein wenig in die Nähe der gleichnamigen Novelle rückt.
    Gabriele Weingartner liefert vieles zugleich: eine biographische Studie, die Psychoanalyse einer berühmten Familie, die Pathologie einer Ehe, einen eindringlichen Blick auf das kulturelle Leben in den zwanziger Jahren und, last but not least, ein fesselndes Stück Literatur.

 

Emma Guntz, „Derrières Nouvelles d’Alsace“

  • „Mit erstaunlicher Feinfühligkeit geht die Autorin den verwickelten Gedanken und Gefühlswegen dieses verängstigten, überspannten, von sich selbst und seiner Umgebung überforderten jungen Mädchens nach. Sie bedient sich dabei einer genauen, sezierenden und distanzierten Sprache, die gerade durch ihren Abstand Nähe und Erschütterung bewirkt. Und Venedig, die schillernde Schöne, die sich im Laufe der zwei Ehejahre in Lilis Augen und Gemüt mit bleigrauem Staub bedeckt, bildet den Rahmen dieser Geschichte von Lilis Leben und Sterben.“

 

Anke Breitmaier, „Literatur & Lesen“

  • „Die pfälzische Autorin macht nachvollziehbar, wie sich die junge Frau mehr und mehr in einer selbstzerstörerischen Schwermut verfängt, wie sie in endlosen Gedankenvariationen den eigenen Handlungsspielraum auszuloten sucht und immer wieder schmerzhaft an die Grenzen ihrer Möglichkeiten stößt. Denn sie ist ein Kimd ihrer Zeit, unfähig, die eigene Integrität durchzusetzen und sich gegen die Konventionen ihrer gesellschaftlichen Schicht zu stellen, um eine selbstbestimmte Weiblichkeit zu leben. Fast wirkt der Stoff zu umfangreich, das Thema zu komplex für einen Roman, aber Weingartner formt das biografische Material zu einem wenn auch fiktiven so doch überzeugenden Porträt einer verzweifelten jungen Frau.“

 

Julia Wehner, „Kritische Ausgabe“

  • „Fast könnte man meinen, der Stoff des Romans sei zu groß, um eine glaubwürdige, nicht pathetische, nicht schnulzige Geschichte von einer Frau wie Lili Schnitzler zu erzählen. Doch Weingartner zeichnet überzeugend den tragischen, fast selbstlaufenden Prozess der zunehmenden Einsamkeit, der mit der dramatischen Erkenntnis endet, dass die Ausweglosigkeit von Lilis Leben in der unüberwindbaren Isolation besteht, die für sie nur im Selbstmord enden zu können scheint. Gabriele Weingartner zeichnet ein Frauenporträt von solcher Stimmigkeit und solchem Einfühlungsvermögen, dass es weder zu Sentimentalitäten noch zu artifiziellen Überzeichnungen kommt. Der Leser erlebt einen berührenden Roman, der ein Schicksal beschreibt, das ebenso sonnenklar und schillernd wie aussichtslos ist.“

 

Rotraut Hock, „Allgemeine Zeitung Mainz“

  • „Im Hintergrund aber entsteht dabei das Porträt einer Familie, deren ödipales Beziehungsgeflecht Sigmund Freud nicht besser hätte erfinden können – der Psychoanalytiker gehörte zum Wiener Freundeskreis der Familie Schnitzler. Wie weit Gabriele Weingartner hier Fakten recherchiert, wie weit sie ihre literarische Biografie nur in die Zeit eingebettet hat, ist im Grunde nicht von Belang- angesichts der inneren Wahrheit dieses ‚Fräulein Schnitzler‘, das eigentlich längst hätte eine Signora Cappellini werden sollen und daran zugrunde geht, dass es immer ‚Papas Allerliebste‘ bleiben wollte. Der Roman entwirft das stimmige und faszinierende Persönlichkeitsbild einer labilen jungen Frau, die unfähig war, erwachsen zu werden. Und er besticht durch die Nähe und die intensive Atmosphäre, die er von den ersten Zeilen an aufbaut und nie verliert, bis hin zu der grotesken Schlusspointe. Gabriele Weingartner beherrscht differenziert und sensibel die hohe Kunst des Erzählens – und verschafft ihren Lesern so doppelten Genuss.“

 

Frank Raudszus, „egotrip.de“

  • „Doch die sich geradezu aufdrängende Analogie führt sie immer wieder auf den schmalen Grat zwischen vordergründiger Fiktionalisierung einer wahren Biographie und nüchterner Darstellung der Ereignisse. Diese Gratwanderung gelingt Gabriele Weingartner meisterlich, und die fast tragisch zu nennende Ähnlichkeit zwischen Fiktion und Leben wird greifbar, ohne jemals in platten Symbolismus abzugleiten. Neben Lilis Schicksal mit seiner „Else-Analogie“ schildert die Autorin eindrucksvoll die Atmosphäre der ausgehenden zwanziger Jahre mit dem aufkommenden Faschismus und seinen mehr oder minder schleichend zu Tage tretendem Unterdrückungsmechanismen … Die zeitliche Beschränkung der Handlung auf Lilis letzten beiden Lebenstage (24. bis 26. Juli 1928) verleiht dem Buch darüber hinaus eine hohe Dichte, da hier jede Minute zählt und jede kleine Demütigung ihren Platz als Stein im Puzzle eines sich auflösenden Lebens einnimmt … Gabriele Weingartner erweist mit diesem Psychogramm eines dem Untergang entgegengehenden jungen Menschen als würdige Nachfolgerin des großen Psychologen Arthur Schnitzler … Dabei wirkt keine Zeile dieses Buches sentimental oder gar kitschig.